„rape culture“ ./. Rechtsfrieden

Über die Last mit der Beweislast bei Sexualstraftaten hatte ich mich bereits in einem früheren Artikel ausgelassen. Ein anschauliches Beispiel für die Konsequenzen dieser Problematik auf der zivilrechtlichen Ebene beschreibt Kollege Ralf Möbius, LL.M., auf seinem Blog.

Die wesentliche Konsequenz für die Opfer derartiger Handlungen findet sich am Ende seines Artikels:

Wer also an seinem Arbeitsplatz von einem Unbekannten unter vier Augen sexuell belästigt wird, tut mangels Beweisbarkeit der Belästigung gut daran, derartige Anzüglichkeiten seinem Vorgesetzten und anderen Kollegen gegenüber zu verschweigen und den verbalen Angriff bestenfalls seiner eigenen Familie zu offenbaren.

Freundlicherweise hat der Kollege auch die Entscheidung selbst hochgeladen. Und zu dieser will ich dann doch noch ein paar Worte verlieren. Ich komme zurück auf meine schon in oben verlinktem Artikel aufgestellten These, dass vermeintliche „non liquet“-Situationen, wie sie gerade für derartige Fallkonstellationen typisch sind, häufig mit einer, nennen wir sie mal vorsichtig problematischen, Würdigung der Beweise durch das Gericht zusammenhängen. Was eine „non liquet“-Situation ist, verrät uns das Gericht freundlicherweise auf Seite 8 der Entscheidung:

„non liquet“, also weder die Verifizierung noch die Falsifizierung der aufgestellten Behauptung

Das Gericht meint nämlich, dass „beide Parteien […] glaubhaft den Ablauf ihres Arbeitstages […] geschildert“ hätten (S. 7).

Weil also sowohl Klägerin als Beklagter jeweils eine in sich plausible Fassung der Geschichte abgeliefert haben, hat die Klägerin den Rechtsstreit verloren, denn sie war beweisbelastet. Dies ist soweit auch folgerichtig. Eine Kritik an der Entscheidung sollte m.E. nicht bei der Beweislastverteilung ansetzen. Die Kritik sollte vielmehr an der Art und Weise ansetzen, wie das Gericht überhaupt zu der Annahme gelangt, dass beide Versionen gleichermaßen glaubhaft seien.

Das Gericht erkennt zunächst an, dass die Klägerin die von ihr behauptete sexuelle Belästigung widerspruchsfrei und glaubhaft geschildert hat. Doch stutzen lässt die Würdigung des Vorbringens des Beklagten:

Auch er hat im Grunde den Vortrag aus den Schriftsätzen wiederholt und konnte sich an konkrete Tätigkeiten, wie zum Beispiel das Einladen des Fahrrades in seinen PKW, erinnern. Diese Tätigkeiten konnte er mit bestimmten Uhrzeiten in Verbindung bringen. […]

Kann ja alles sein. Na, und? Der ganze behauptete Vorfall dürfte ja kaum eine Minute gedauert haben. Zweifelsfrei war davor und danach noch ganz viel Zeit, ganz viele Fahrräder in ganz viele PKW zu packen.

Motive, warum eine der beiden Parteien die Unwahrheit sagen sollte, drängen sich dem Gericht nicht auf.

Dieser Satz bildet den Kern der Problematik ab. Ich wüsste in der Tat auch nicht, warum die Klägerin eine sexuelle Belästigung, die gar nicht stattgefunden hat, erfinden sollte. Gründe hingegen, warum der Beklagte einen solchen Vorfall wahrheitswidrig abstreiten können wollte, drängen sich mir zumindest durchaus auf. Und natürlich könnte er dabei unheimlich glaubwürdig wirken und seinen Arbeitstag widerspruchsfrei und wahnsinnig detailliert schildern. Er bräuchte ja einfach nur wahrheitsgemäß zu sagen, was er vorher und nachher getan hat.

Das Gericht weist die offenbar haltlosen Spekulationen beider Parteien über die Beweggründe der jeweils anderen Partei vermutlich zutreffend zurück. Denn dank „rape culture“ brauchen Männer ja eben gar keine besonderen Beweggründe für ein solches Verhalten. Konsequenzen hat es ja eben, wie man sieht, keine. Jedenfalls nicht für sie. Denn das Gericht zieht folgendes Fazit:

Im Ergebnis gibt es also keinen Grund, der Aussage einer der beiden Parteien mehr Glauben zu schenken als der anderen.

Denn dass jemand eine sexuelle Belästigung, die nie stattgefunden hat, erfindet, ist genau so wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, wie dass jemand, dem eine solche vorgeworfen wird, diese bestreitet. Meint das Gericht. Und gebietet der Klägerin, zu schweigen. Denn dann stört sie wenigstens nicht den Rechtsfrieden. Und niemand mag Störenfriede.