Nach dem Beschluss ist vor dem Beschluss

Mittlerweile ist der Beschluss des VG Gelsenkirchen vom 13.07.2018, 8 L 1315/18, im Volltext veröffentlicht. Hierbei handelt es sich um den Beschluss, mit dem die Stadt Bochum als Ausländerbehörde verpflichtet wurde, den Betroffenen zurück zu holen: „Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragsteller unverzüglich auf ihre Kosten in die Bundesrepublik Deutschland zurückzuholen“, heißt es im Tenor. Der Beschluss des VG Gelsenkirchen vom 12.07.2018, 7a L 1200/18.A, war ebenfalls zwischenzeitlich auf „nrwe“ im Volltext veröffentlicht; zwischenzeitlich wurde er aber offensichtlich seltsamerweise wieder gelöscht. Hierbei handelt es sich um den Beschluss aus dem asylrechtlichen Verfahren, mit dem die 7a. Kammer die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Widerruf des Abschiebungsverbotes wiederhergestellt hat, weil sie weiterhin die Gefahr sieht, dass der Betroffene in Tunesien gefoltert werden könnte. Außerdem gibt es nun auch noch eine kurze Pressemitteilung des OVG NRW, in der das OVG NRW mitteilt, dass die Stadt Bochum zwischenzeitlich Beschwerde gegen den Beschluss im Verfahren 8 L 1315/18 eingelegt habe. Die Beschwerde sei noch nicht begründet; hierzu habe die Stadt Bochum noch bis zum 13.08.2018 Zeit (also einen Monat nach Bekanntgabe, vgl. § 146 Abs. 4 S. 1 VwGO). Zeit, für einige ergänzende und klarstellende Anmerkungen.

Was steht in dem Beschluss?

Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung – und um eine solche handelt es sich hier – ist in der Regel ein Anordnungsgrund und ein Anordnungsanspruch. Das ist soweit keine Besonderheit des Verwaltungsprozessrechts; entsprechende Regelungen gibt es auch in anderen Zweigen der Gerichtsbarkeit; § 123 Abs. 3 VwGO verweist in diesem Zusammenhang auf entsprechende Vorschriften der ZPO. Man braucht demnach ein zu sicherndes Recht (Anordnungsanspruch) und eine besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund).

Hinsichtlich des Anordnungsanspruchs verweist das VG auf den Beschluss aus dem asylrechtlichen Verfahren vom Vortag. An diesen Beschluss sieht sich das VG gemäß § 42 S. 1 AsylG gebunden. Das heißt, die 8. Kammer bildet sich im aufenthaltsrechtlichen Vefahren keine eigene Meinung zur Frage, ob dem Betroffenen tatsächlich Folter in Tunesien droht: Die 7a. Kammer hat das so beschlossen, und dann ist das eben so. Das erscheint mir zwingend; ich kann mir kaum vorstellen, dass das OVG das anders sehen wird. Um die Frage, ob dem Betroffenen in Tunesien wirklich Folter droht, wird es daher im Beschwerdeverfahren nicht mehr gehen.

Interessanter sind die Ausführungen zum Anordnungsgrund. Das Gericht führt hier nämlich aus, dass die Abschiebung nach seiner Auffassung rechtswidrig erfolgt sei:

Viele Darstellungen sind an dieser Stelle ungenau, meinen eigenen Blogbeitrag vom Samstag schließe ich ausdrücklich mit ein. Denn immerhin ist zuzugeben, dass die Abschiebungsandrohung zum Zeitpunkt der Abschiebung vollziehbar war, nachdem die 8. Kammer den gegen diese Abschiebungsandrohung gerichteten Eilantrag zuvor abgelehnt hatte. Und auch die Klage gegen den Widerruf des Abschiebungsverbots hatte ja zu dem Zeitpunkt, als mit der Abschiebung begonnen wurde, noch keine aufschiebende Wirkung; diese wurde vielmehr erst mit Bekanntgabe des Beschlusses wiederhergestellt.

Zwar meine ich weiterhin, dass das Verhalten der Behörden gegenüber dem Gericht in dem asylrechtlichen Verfahren zum vorläufigen Rechtsschutz skandalös ist, und es politischer Aufklärung bedarf, wie es dazu kommen konnte. Hinsichtlich der Frage, ob die Abschiebung nun rechtswidrig erfolgt ist, oder nicht, ist allerdings ein anderer Aspekt wichtiger, nämlich die Frage, ob die Abschiebung, als der Beschluss am Morgen des 13.07. noch bekannt gegeben wurde, noch hätte abgebrochen werden können. Der ABH lag der Beschluss gegen 8:15 Uhr vor, die Landung in Tunesien erfolgte circa eine Dreiviertelstunde später. Das sollte eigentlich genug Zeit sein, um Kontakt zur Besatzung des Flugzeuges bzw. den die Abschiebung begleitenden Beamt:innen aufzunehmen, und sie aufzufordern, umzukehren. Hier wird also nach meiner Einschätzung die Musik im Beschwerdeverfahren spielen. Die ABH wird also bis zum 13.08. eine plausible Erklärung für diesen Vorgang liefern müssen.

Im Übrigen befasst sich das VG noch mit Fragen des Wiedereinreiseverbots: Wenn jemand abgeschoben wird, so darf sie:er über einen bestimmten, festzulegenden Zeitraum nicht wieder einreisen. Das VG geht daher der Frage nach, ob nicht ein solches Wiedereinreiseverbot dem Anspruch des Betroffenen, nach Deutschland zurück geholt zu weden, entgegen stehen könnte, denn abgeschoben worden ist er ja nun einmal tatsächlich. Da meint das VG dann aber eben, dass das Wiedereinreiseverbot entfallen müsse, wenn die Abschiebung rechtswidrig erfolgt sei. Würde ich die Stadt Bochum in den Beschwerdeverfahren vertreten, würde ich mir die Ausführungen sorgfältig durchlesen und mir überlegen, ob dieser Teil des Beschlusses nicht auch angreifbar sein könnte; auf den ersten Blick scheint mir die Argumentation des VG allerdings plausibel zu sein, weswegen ich tendenziell eher davon ausgehe, dass das OVG sich ihr im Ergebnis anschließen wird, soweit es darauf denn nach seiner Auffassung überhaupt ankommen sollte.

Von wegen „Da mihi factum, dabo tibi ius“!

„Gib mir die Tatsachen, ich gebe dir das Recht“, sagt die:der Jurist:in. Das gilt im Verwaltungsprozessrecht ohnehin nur eingeschränkt schon wegen des Amtsermittlungsgrundsatzes, gerade im Beschwerdeverfahren kommt jedoch noch eine zusätzliche Hürde hinzu (§ 146 Abs. 4 S. 3, 6 VwGO):

Sie [= die Begründung der Beschwerde] muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinander setzen. […] Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.

Die ABH muss ihre Beschwerde also jetzt innerhalb der genannten Frist sehr sorgfältig begründen. Dazu gehört – und das ist nach meiner Kenntnis (Kolleg:innen aus anderen Rechtsgebieten dürfen mich gerne korrigieren) tatsächlich eine Besonderheit des Verwaltungsprozessrechts – nicht nur, dass die ABH in tatsächlicher Hinsicht vorträgt, warum sie die Abschiebung nach Bekanntgabe des Beschlusses nicht abgebrochen hat, sondern auch, dass sie auch in rechtlicher Hinsicht begründet, warum sie den Beschluss für falsch hält. Das OVG ist im Beschwerdeverfahren darauf beschränkt, die von der ABH angeführten Argumente zu prüfen. Sollte das OVG also der Meinung sein, dass der Beschluss des VG Gelsenkirchen zwar falsch ist, aber aus anderen Gründen als denen, auf die sich die ABH beruft, so hätte es die Beschwerde zurück zu weisen, und den Beschluss des Verwaltungsgerichts damit zu bestätigen, obwohl es ihn für falsch hält. Ob diese Vorschrift so sinnvoll ist, mag man sicher bezweifeln können, aber so ist es eben.

Und das Asylverfahren?

Der Beschluss der 7a. Kammer in dem asylrechtlichen Verfahren ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar. Gegen diesen Beschluss gibt es mithin keine Beschwerde; die Behörden haben also gerade keine Möglichkeit, die Annahme des Verwaltungsgerichts, dem Betroffenen drohe in Tunesien Folter, durch das OVG NRW überprüfen zu lassen. Selbst, wenn der Beschluss nicht unanfechtbar wäre, könnte auch nur das BAMF Beschwerde einlegen, aber nicht die ABH, denn die ist an diesem Verfahren ja gar nicht beteiligt. Damit steht erst einmal fest, dass die Klage aufschiebende Wirkung hat. Falls der Betroffene also tatsächlich irgendwie nach Deutschland zurück geholt würde, könnte er auch bis auf Weiteres nicht erneut abgeschoben werden.

Das bedeutet allerdings nicht, dass damit das letzte Wort in dem Asylverfahren gesprochen ist. Denn zum einen handelt es sich eben nur um einen Beschluss zum vorläufigen Rechtsschutz, es ist also durchaus möglich, dass das Gericht im Klageverfahren später nach entsprechend eingehenderer Prüfung des Sachverhalts und der Auskunftslage zu Tunesien zu einem anderen Ergebnis kommt und die Klage dann doch noch abweist.

Außerdem hat das BAMF die Möglichkeit, einen Abänderungsantrag gemäß § 80 Abs. 7 VwGO zu stellen, insbesondere wegen veränderter Umstände. Das könnte etwa der Fall sein, wenn Tunesien doch noch, wie vom Verwaltungsgericht gefordert, diplomatisch verbindlich zusichert, den Betroffenen nicht zu foltern.

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