VG Gelsenkirchen: Keine Unterbrechung der Dublin-Überstellungsfrist wegen Covid-19

Im Februar 2020 hatte ich hier auf die Möglichkeit hingewiesen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) versuchen könnte, die ihm durch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) im Prinzip zugestandene Möglichkeit, die Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren durch Aussetzungsverfügungen gemäß § 80 Abs. 4 VwGO zu unterbrechen, zu nutzen, um Abschiebungen, die wegen des „Lockdowns“ zunächst nicht stattfinden konnten, nach dessen Beendigung nachzuholen. Tatsächlich stellte sich wenige Wochen später heraus, dass sich das BAMF tatsächlich in sehr vielen Fällen für diese Vorgehensweise entschieden hat. Ob und in welchen Fällen dies zulässig ist, darüber gehen die Meinungen in der Rechtsprechung weit auseinander. Derzeit liegen mehrere Revisionsverfahren zu dieser Frage beim BVerwG. Hier stelle ich einen Beschluss vor, in dem das Verwaltungsgericht (VG) Gelsenkirchen diese Vorgehensweise für unzulässig hält.

Vorab verdient wiederum eine Besonderheit im Verfahren Beachtung: Es handelt sich wiederum um einen Antrag im Verfahren nach § 123 VwGO, der hier, da zuvor zwar geklagt, aber kein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 80 Abs. 5 VwGO gestellt worden ist, zulässig ist. Zu diesem Thema hatte ich bereits im Zusammenhang mit dieser Entscheidung des VG Aachen etwas ausführlicher geschrieben. Das VG Gelsenkirchen schließt sich der Meinung des VG Aachen zu diesem Thema an:

Im vorliegenden Fall ist ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ausnahmsweise trotz der in § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG vorgesehenen Wochenfrist und des in § 123 Abs. 5 VwGO geregelten Vorrangs der Verfahren nach § 80 Abs. 5 und Abs. 7 VwGO vor dem Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO zulässig, um das verfassungsrechtlich (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz) garantierte Recht des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Mit Blick auf die Antragsfrist des § 34a Abs. 2 AsylG erfasst der Vorrang eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 5 VwGO nämlich nur Umstände, die innerhalb dieser Frist geltend gemacht werden konnten. Hierzu zählt der vom Antragsteller geltend gemachte Ablauf der Überstellungsfrist nicht. Dieser ist erst weit nach Ablauf der Frist des § 34a Abs. 2 AsylG eingetreten. Um dem Asylantragsteller in einer solchen Situation effektiven Rechtsschutz gegen die sofortige Vollziehung der ggf. rechtswidrig gewordenen Abschiebungsanordnung nicht zu verweigern, muss er die nachträglich entstandene Frage des Ablaufs der Überstellungsfrist im Wege eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO gegen die Vollziehung einwenden können. Sonst entstünde eine mit Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 27 Dublin III-VO nicht vereinbare Rechtsschutzlücke.

Zur Frage, ob die Aussetzungsverfügungen des BAMF rechtmäßig sind, führt das Gericht aus:

Zwar ist das Bundesamt grundsätzlich berechtigt, gemäß § 80 Abs. 4 VwGO die sofortige Vollziehung der Abschiebungsanordnung auszusetzen, was gemäß Art. 27 Abs. 4 Dublin III VO eine Unterbrechung der Überstellungsfrist zur Folge haben kann. Dem nach nationalem Recht für das Bundesamt durch § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO eröffneten weiten Handlungsspielraum werden aber durch unionsrechtliche Vorgaben Grenzen gesetzt, und zwar insbesondere durch das mit der Dublin III Verordnung verfolgte Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats und andererseits dem Ziel, zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung des Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen. Eine behördliche Aussetzungsentscheidung darf hiernach auch unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes erlaubt eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht rechtsmissbräuchlich sind. […]

Nach diesen Kriterien ist die durch das Bundesamt erfolgte Aussetzung der Vollziehung aus europarechtlichen Gründen rechtswidrig. Sie diente nicht dazu, dem Betroffenen zu ermöglichen, den Ausgang des gerichtlichen Verfahrens in Deutschland abzuwarten. Dies wird daran deutlich, dass die Aussetzung der Vollziehung nicht bis zum Abschluss des gerichtlichen Verfahrens, sondern nur bis auf weiteres und unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs erfolgt ist und bereits vor dem Abschluss des gerichtlichen Verfahrens widerrufen wurde. Die Aussetzung trug vielmehr dem Umstand Rechnung, dass aus tatsächlichen Gründen, die keiner der Beteiligten zu vertreten hat, eine Überstellung bis zum Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist unwahrscheinlich geworden war. Für einen solchen Fall sieht das Europarecht aber gerade keine Fristverlängerung vor, und weder die unionsrechtlich noch die nach nationalem Recht vorgesehene Aussetzungsmöglichkeit sind dafür bestimmt, in einer solchen Konstellation eine Verlängerung der Überstellungsfrist herbeizuführen. Dennoch aufgrund der Aussetzung der Vollziehung durch das Bundesamt eine Unterbrechung der laufenden Überstellungsfrist anzunehmen, könnte für den Antragsteller einen Schwebezustand von nicht absehbarer Dauer zur Folge haben, was dem Ziel der Dublin III Verordnung widersprechen würde, eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und eine zügige Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

Zur Antragsbegrüdung habe ich u.a. den empfehlenswerten Musterschriftsatz von Pro Asyl und Fluchtpunkt Hamburg zu dieser Frage verwendet. Hilfreich ist auch diese Rechtsprechungsübersicht, die der Informationsverbund Asyl & Migration zusammengetragen hat.

VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 05.11.2020, 19a L 1329/20.A

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