Mit diesem Urteil hat das Verwaltungsgericht (VG) Arnsberg die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, einem homosexuellen Mann aus der Russischen Föderation, umgangssprachlich als Russland bezeichnet, die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 AsylG zuzuerkennen. Dabei, so das Gericht, würden homosexuelle Handlungen durch den russischen Staat nicht mit Strafe bedroht. Insoweit unterscheidet sich die Situation in der Russischen Föderation von derjenigen etwa im Iran oder in Marokko.
Aber dennoch sieht das Gericht die Gefahr einer Verfolgung. Es führt aus:
Die Personengruppe der LGBT-Menschen besitzt in der Russischen Föderation ausweislich der eingeführten Erkenntnisse eine deutlich abgegrenzte Identität im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b AsylG, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Homosexualität wie auch sonst die Zugehörigkeit zu sexuellen Minderheiten ist in der russischen Gesellschaft ein Tabuthema. Personen, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekennen, müssen im gesamten Staatsgebiet der Russischen Föderation mit sozialer Ausgrenzung und Diskriminierungen im Alltag, im beruflichen Kontext, in der medizinischen Versorgung sowie mit Anfeindungen und zum Teil mit gewaltsamen Übergriffen rechnen. In der Bevölkerung nehmen starke Vorbehalte zu, seitdem sie durch die orthodoxe Kirche und islamische Prediger, zunehmend auch durch staatliche Medien und durch in den sozialen Netzen aktive homophobe russische Bürger gefördert werden. Homosexualität ist in Russland zwar nicht strafbar, jedoch gibt es auch kein ausdrückliches gesetzliches Diskriminierungsverbot aufgrund sexueller Orientierung. Durch das 2013 verabschiedete Gesetz zum „Verbot nicht-traditioneller sexueller Beziehungen von Homosexuellen gegenüber Minderjährigen“ ist zudem praktisch jede öffentliche Darstellung von Homosexualität strafbar. Auch das Auswärtige Amt warnt bei Reisen in die Russische Föderation vor Übergriffen in Folge der Zurschaustellung einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft und weist darauf hin, dass das genannte Gesetz auch für Ausländer gilt.
Staatlicher Schutz ist nicht i. S. d. § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG gewährleistet. Zwar führen einzelne Übergriffe gegen Homosexuelle nicht grundsätzlich zu der Annahme der fehlenden Schutzfähigkeit bzw. –willigkeit des Staates, ebenso wenig schließt das Bestehen gewisser Schutzlücken die Wirksamkeit staatlichen Schutzes grundsätzlich aus, allerdings hat die – mitunter gewaltbereite – Diskriminierung, Stigmatisierung und Kriminalisierung Homosexueller in der russischen Gesellschaft ein deutlich darüber hin ausgehendes Ausmaß erreicht. Zudem verweigert die Polizei häufig die Aufnahme einer Anzeige, sobald der homophobe Hintergrund der Tat zutage tritt, weshalb Betroffene vielfach von einer Anzeige absehen. Auch innerhalb der Polizei ist eine homophobe Einstellung weit verbreitet und es kommt zum Teil zu Übergriffen durch Polizisten.
Vgl. zum Vorstehenden etwa VG Karlsruhe, Urteil vom 18. August 2020 – A 11 K 2579/18 – m. w. N.; VG Potsdam, Urteil vom 13. Juni 2018 – VG 6 K 268/16.A –, juris, m. w. N.
Kleine Randnotiz: Mit diesem Urteil nimmt ein Asylverfahren sein vorläufiges Ende, welches nun fast acht Jahre gedauert hat. Der Kläger hatte bereits vor rund fünfzehn Jahren erfolglos ein Asylverfahren betrieben und war zwischenzeitlich auch wieder in die Russische Föderation ausgereist. Im Jahre 2013 dann haben wir für ihnen einen neuen Asylantrag gestellt, einen sogenannten Folgeantrag (§ 71 AsylG), der rund vier Jahre später, im Jahre 2017, abgelehnt wurde, und es sollte noch mal rund drei Jahre dauern, bis das Gericht über die gegen diesen Bescheid erhobene Klage entscheidet und der Kläger zu seinem Recht kommt.
Ende gut, alles gut, mag man zu sagen versucht sein, dennoch sollte man nicht vergessen, was acht Jahre Schwebezustand bedeuten und anrichten können, in denen eine schutzsuchende Person zwar ihr Herkunftsland verlassen hat, ohne aber wirklich im Aufnahmeland ankommen zu können.
VG Arnsberg, Urteil vom 19.05.2021, 1 K 6017/17.A