Am 9. Dezember 2021 erschien auf dem „Verfassungsblog“ ein Artikel von Valentin Feneberg und Paul Pettersson zur Entwicklung der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in asylrechtlichen Verfahren betreffend Afghanistan seit der Machtübernahme durch die Taliban. Dabei beschränkt sich der Artikel im Wesentlichen auf die humanitäre Lage in Afghanistan, während sonstige Bedrohungen wie etwa eine drohende politische Verfolgung durch die Taliban nicht betrachtet werden. Die Autoren untersuchen 24 jüngere, in juris enthaltene Entscheidungen, die sie in drei „Blöcke“ einteilen:
Der erste Block „Netzwerk und Geld“ nahm grundsätzlich an, dass junge, alleinstehender Männer schutzbedürftig sind, es sei denn, sie verfügen über erhebliche finanzielle Ressourcen oder ein tragfähiges soziales Netzwerk in Afghanistan. Der zweite Block „Durchsetzungsfähigkeit“ geht nicht ganz so weit: Ihm reicht aus, wenn Antragsteller besonders durchsetzungsfähig sind, etwa aufgrund beruflicher Fähigkeiten oder einer vorherigen Sozialisation in Afghanistan. Ein dritter Block „unverändert“ (im Vergleich zur Bewertung der Lage vor Ausbruch der Pandemie) ging nicht grundsätzlich von der Schutzbedürftigkeit des Kollektivs aus und beschränkte den Schutz auf besonders vulnerable Personen.
Ausgehend von diesen Ausführungen erlaube ich mir hier, ein paar Ergänzungen zur jüngsten Afghanistan-Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte (VGe) Düsseldorf und Gelsenkirchen anzubringen, soweit sie mir hier bekannt geworden ist.
Lagebericht des AA
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes (AA), den fragdenstaat.de veröffentlicht hat. Bemerkenswert sind dort insbesondere die letzten zwei Sätze:
Die durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaftslage steht in Folge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps. Rückkehrende verfügen aufgrund des gewaltsamen Konflikts und der damit verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern.
Diese beiden Sätze bringen nicht nur das Desaster in Afghanistan zum Ausdruck, sie markieren auch einen Bruch mit den bisherigen Darstellungen deutscher Regierungen, denen Kritiker*innen freilich schon seit Jahren vorwerfen, die Situation in Afghanistan schönzuschreiben, um nicht zugeben zu müssen, dass der Bundeswehreinsatz dort zu nichts führt.
Die Sätze zeigen aber eben auch, warum so viele VGe die Frage nach den „familiären Netzwerken“ so stark in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung rücken: Bislang dominierte in der Rechtsprechung die Vorstellung, dass gesunde, alleinstehende Männer im erwerbsfähigen Alter sich in eine Großstadt wie Kabul schon irgendwie werden durchschlagen können. Unabhängig von der Frage, ob das überhaupt jemals richtig war, erscheint dies angesichts der veränderten Umstände in Afghanistan nunmehr zweifelhafter, als je zuvor.
Auch das AA geht offenbar nicht länger davon aus, dass diese Personengruppe so ohne Weiteres in der Lage sein wird, ein Existenzminimum zu erwirtschaften, sondern eben nur, wenn ein entsprechend vermögendes Netzwerk vorhanden ist, dass die Personen auffangen und versorgen kann. Diese Einschätzung veranlasst für sich genommen aber noch keine vollständige Aussetzung aller Abschiebungen nach Afghanistan: Den Leuten, die über ein entsprechendes Netzwerk verfügen, wäre eine Rückkehr nach Afghanistan ja durchaus noch zuzumuten, wenn man alleine auf die Einschätzung der ökonomischen Lage durch das AA abstellt. Dementsprechend betonen auch Gerichte, wenn sie in derartigen Fällen ein Abschiebungsverbot bejahen, stets die besonderen, individuellen Umstände des Einzelfalls.
Auch die Lageberichte des AA sind für die VGe nicht verbindlich. Erfahrungsgemäß kommt den Einschätzungen des AA in der Rechtsprechung aber regelmäßig ein hohes Gewicht zu.
Eine Lanze für das VG Gelsenkirchen
Zunächst einmal sehe ich mich veranlasst, eine Lanze für das VG Gelsenkirchen zu brechen. Feneberg und Pettersson schreiben:
Andere Fälle, etwa die 5a. Kammer VG Gelsenkirchen, […] wechselten vom restriktivsten Block „unverändert“ in den Block „Netzwerk/Geld“.
Soweit hier – sei es beabsichtigt oder auch nicht – der Eindruck entsteht, das VG Gelsenkirchen sei besonders restriktiv, ist das unzutreffend. Wie wohl die meisten VGe fühlt man sich auch in Gelsenkirchen an die Vorgaben des Oberverwaltungsgerichts (OVG) NRW gebunden. Und die waren jedenfalls bisher immer eher restriktiv. Zwar gibt es eine derartige Bindungswirkung strenggenommen nicht oder zumindest nur in besonders gelagerten Fällen. So regelt etwa § 31 BVerfGG eine Bindungswirkung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Von Entscheidungen von Oberverwaltungsgerichten dürfen erstinstanzliche Verwaltungsgerichte hingegen jederzeit abweichen, wenn ihnen danach ist. Das kommt auch durchaus vor. So kamen etwa die 8. Kammer des VG Münster und die 3. und 5. Kammer des VG Düsseldorf über einen längeren Zeitraum auch in vielen Fällen syrischer Staatsangehöriger zur Flüchtlingseigenschaft, denen nach der Rechtsprechung des OVG nur der subsidiäre Schutz zuzuerkennen gewesen wäre. Teilweise haben sie dabei der Rechtsprechung des OVG NRW explizit widersprochen. Allerdings ging das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dann auch in vielen Fällen erfolgreich ins Rechtsmittel, so dass für die Betroffenen unterm Strich außer hohen Kosten nicht viel herauskam. Außerdem wird es auch aus Gründen der sogenannten Rechtssicherheit in der Regel als wünschenswert angesehen, wenn sich erstinstanzliche Gerichte an die Vorgaben der Obergerichte halten, damit die Entscheidungspraxis der Gerichte möglichst einheitlich und damit berechenbar ist.
Auch das VG Gelsenkirchen hält sich in diesem Sinne an die Vorgaben aus Münster; gleichwohl kann ich nach gut zehn Jahren Asylrecht in NRW sagen: Kaum eine andere Kammer in der NRW legt diese Vorgaben im Sinne der Betroffenen so großzügig aus, wie die 5a. Kammer des VG Gelsenkirchen, indem man etwa Angaben von Betroffenen oder ärztliche Atteste eher wohlwollend würdigt oder auch von Amts wegen Beweis durch die Einholung weiterer ärztlicher Stellungnahmen erhebt, wenn die vorliegenden Atteste nicht ausreichen. Derartige Beweiserhebungen sind in derartigen Verfahren keineswegs alltäglich.
Dazu passt es dann eben auch, wenn das VG Gelsenkirchen nunmehr, um es in den Worten von Feneberg und Pettersson auszudrücken, vom restriktivsten Block „unverändert“ in den Block „Netzwerk/Geld“ gewechselt ist: Die Veränderungen in Afghanistan in den letzten Monaten sind für viele der dort lebenden Menschen katastrophal, aber sie zwingen das BAMF und die Verwaltungsgerichte dazu, die Situation asylrechtlich neu zu bewerten. In Gelsenkirchen hat man die Gelegenheit bereits genutzt, die eigene Rechtsprechung anzupassen.
Verfolgung durch die Taliban
Nun sind die ökonomischen und humanitären Umstände in Afghanistan ja nicht die einzige potenzielle Bedrohung für Rückkehrer*innen. Schon früher beriefen sich viele Geflüchtete auf eine drohende Verfolgung durch die Taliban. Sofern ihnen ihre Geschichten überhaupt geglaubt worden sind, wurden sie häufig auf angebliche Möglichkeiten, sich innerhalb Afghanistans in Sicherheit zu bringen, verwiesen (sog. Interner Schutz, § 3e AsylG). Insbesondere die Hauptstadt Kabul wurde hier regelmäßig genannt, da diese ja durch die Regierung kontrolliert werde und man dort also sicher vor den Taliban sei.
Politische Verfolgung
Das VG Gelsenkirchen unterstreicht in einem Urteil vom 11.10.2021, 5a K 1916/18.A, dass es politische Verfolgung ist, wenn Verfolgung durch die Taliban droht, weil man von ihnen als Gegner angesehen wird:
Das Gericht geht davon aus, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in gleich gewalttätiger Weise Verfolgung drohen wird. Der Kläger hat schon vor seiner Ausreise durch seinen, wenn auch erzwungenen, Verrat aus der maßgeblichen Sicht der Taliban offen eine talibanfeindliche Einstellung zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus hat der Kläger durch seine Flucht und seinen anschließenden Aufenthalt in Europa in den Augen der Taliban weiterhin dokumentiert, dass er den Zielen und Vorstellungen der Taliban mehr als ablehnend gegenüber steht. Angesichts der der Taliban eigenen Brutalität und Menschenverachtung stand schon bis zur Machtübernahme der Taliban in Afghanistan Mitte August 2021 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass diese Organisation nicht zuletzt auch zur Abschreckung anderer an dem Kläger brutale Gewalttaten verüben werde.
Anhaltspunkte dafür, mit der Machtübernahme habe sich die Situation für die diejenigen, die die Taliban als ihre Feinde betrachten, geändert, sind nicht ersichtlich.
Auf Menschenverachtung beruhende Grausamkeit und Brutalität sind seit Jahrzehnten wesentliche Charakteristika der Taliban. Allein deshalb spricht schon alles dafür, dass diese Organisation auch die neu gewonnene Herrschaft mit den ihr geläufigen „Mitteln“ durchsetzen und festigen wird. Das Gericht übersieht dabei nicht, dass führende Angehörige der Taliban sich im Sinne einer Amnestie für ihre Gegner geäußert haben. […]
Angesichts des Verhaltens der Taliban in der Vergangenheit und unter Berücksichtigung der aktuellen Berichterstattung über das tatsächliche Verhalten der Taliban ist das Gericht indessen davon überzeugt, dass eine diesen Äußerungen entsprechende Absicht der Taliban tatsächlich nicht besteht. […]
Die demnach bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung des Klägers knüpft im vorliegenden Fall an das Merkmal der politischen Überzeugung im Sinne von §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3b Abs. 1 Nr. 5 an, wobei es hinreicht, dass diese Überzeugung dem Kläger von den Verfolgern zugeschrieben wird, § 3b Abs. 2 AsylG an.
Interner Schutz
Das Gericht betont zudem auch, dass dem Kläger dieses Verfahrens nicht nur aufgrund der veränderten Umstände in Afghanistan keine Möglichkeit internen Schutzes mehr zur Verfügung steht, sondern auch, dass eine solche auch bereits vor der Machtübernahme der Taliban nicht bestand:
Handelte es sich bei den Taliban bisher um einen nichtstaatlichen Verfolgungsakteur im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG, gegenüber dem schon der bis zur Machtübernahme durch die Taliban bestehende afghanische Staat selbst an Orten, in denen er über Gebietsgewalt verfügt hatte, nicht in der Lage war, seine Bevölkerung vor Angehörigen der Taliban zu schützen, […] sind die Taliban seit ihrer Machtübernahme nunmehr selbst als staatlicher Akteur im Sinne von § 3 c Nr. 1 AsylG einzustufen. Aus diesem Grund bestand bis zur Machtübernahme durch die Taliben und besteht seither für den Kläger auch keine interne Schutzalternative im Sinne von § 3e AsylG.
Der Hinweis, dass für den Kläger auch zuvor bereits keine Möglichkeit internen Schutzes bestand, ist dabei rechtlich überflüssig, denn nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen, und die war hier im Oktober 2021, also nach der Machtübernahme der Taliban. Im Sinne meiner oben dargestellen Einschätzung der Rechtsprechung des VG Gelsenkirchen interpretiere ich diesen Hinweis daher eher so, dass der Einzelrichter es sich nicht nehmen lassen möchte, noch einmal mitzuteilen, dass er im Grunde genommen immer schon eine andere Auffassung vertrat, als die herrschende Rechtsprechung (wenngleich die Frage, ob und wann Kabul und/oder andere Regionen in Afghanistan als „sicher“ gelten konnten, schon immer besonders kontrovers diskutiert wurde, aber das würde hier zu weit führen).
Vernünftige Erwartungen
Mit der Frage des internen Schutzes setzt sich auch das VG Düsseldorf in einem Gerichtsbescheid vom 15.10.2021, 21 K 3063/21.A, auseinander, allerdings noch mal aus einer anderen Perspektive: Zu den Anforderungen an den Internen Schutz gehört gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG unter anderem, dass von einer schutzsuchenden Person „vernünftigerweise erwartet werden kann, dass [sie] sich dort niederlässt“. Dies läuft praktisch wieder auf eine Prüfung der wirtschaftlichen und humanitären Bedingungen in der fraglichen Region hinaus: Sind diese so katastrophal, dass es kaum möglich ist, dort eine menschenwürdige Existenz aufzubauen, scheidet die Region als Möglichkeit Internen Schutzes aus. Dazu führt das VG Düsseldorf aus:
Unabhängig von der Frage, ob es bei Kabul noch um einen sicheren Landesteil handelt, ist die Niederlassung dort nur zumutbar im Sinne der §§ 4 Abs. 3, 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wenn bei umfassender Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls ein die Gewährleistung des Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) wahrendes Existenzminimum gesichert ist und auch keine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Grund- oder Menschenrechte oder eine sonstige unerträgliche Härte droht […]. Hierbei ist insbesondere von Bedeutung, ob aus objektiver Sicht die grundlegenden Bedürfnisse des Betroffenen befriedigt werden können […]. Es muss also in jedem Fall am Ort des internen Schutzes die Existenzsicherung des Betroffenen gewährleistet sein […]. Dies geht als Zumutbarkeitsmaßstab über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 5 AufenthG beachtlichen existenziellen Notlage hinaus. Für die Kläger muss wenigstens das Existenzminimum insoweit gesichert sein, dass sie durch Arbeit oder Zuwendungen Dritter jedenfalls nach der Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zum Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können […]. Der Einzelrichter hat unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Erkenntnismittel durchgreifende Zweifel, dass dies für die Kläger in ihrer individuellen Situation angenommen sowohl für Kabul, als auch für Afghanistan insgesamt werden kann.
Die wirtschaftliche Lage in Afghanistan hat sich zusehends verschlechtert, sodass es den Klägern schwerfallen wird, ihren Lebensunterhalt zu sichern. In den von den Taliban beherrschten Städten, insbesondere Kabul, herrscht ein gespanntes Abwarten. Die Taliban haben in der Stadt Checkpoints errichtet und die Bevölkerung fürchtet sich vor Racheakten der Taliban. Ein normales wirtschaftliches Leben findet derzeit nicht statt. Insoweit wird es den Klägern schwer fallen, auf dem für Rückkehrer bislang allein offen stehenden Tagelöhnermarkt eine Arbeit zu finden. Hinzu kommt, dass Afghanistan, welches auch durch die Covid-19-Pandemie von erheblichen Preissteigerungen gerade für Nahrungsmittel betroffen ist, […] zukünftig auf Geldzuflüsse aus dem Ausland wird verzichten müssen. So hat bereits Deutschland die Entwicklungshilfe sowie sämtliche andere Hilfszahlungen für Afghanistan gestoppt […]. Die neue afghanische Regierung hat zudem keinen Zugriff auf einen wesentlichen Teil der Devisenreserven Afghanistans […].
Die Wirtschaft in Afghanistan ist nach den Einschätzungen der Vereinten Nationen weitgehend zusammengebrochen. Viele Afghanen hätten ihre Jobs verloren und nun kaum noch Geld. Es drohe ein wirtschaftlicher Zusammenbruch des Staates[…]. Laut USAID hat die politische Instabilität im Land erhebliche Auswirkungen auf die afghanische Währung, deren Wert zwischen dem 1. August und 22. August 2021 um 9 % fiel. Aus diesem Wertverfall resultierte ein Preisanstieg bei Nahrungsmitteln. So sind im gleichen Zeitraum die Preise für Weizen um 5 %, die für Reis um 6.6 % und die für Weizenmehl um 8,6 % im Land gestiegen […]. Auch werden die internationalen Organisationen, die bislang die Rückkehrer finanziell und durch Vermittlung von Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten unterstützt haben, zumindest vorläufig nicht mehr in dem bisherigen Umfang – wenn überhaupt – unterstützen können.
Bei dieser Betrachtung wird es den Klägern nicht gelingen, ihren Lebensunterhalt zusichern, zumal sie über keine Verwandten in Afghanistan verfügen, über die sie Unterstützung vor Ort erfahren könnten.
Abschiebungsverbote
Mit Urteil vom 21.12.2021, 5a K 2949/19.A, verpflichtet das VG Gelsenkirchen das BAMF zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes zugunsten eines jungen Mannes, der zwar alleinstehend ist, aber auch gesundheitlich beeinträchtigt und insofern nicht uneingeschränkt erwerbsfähig. Dazu
Ausgehend von diesen Grundsätzen sprechen zwingende humanitäre Gründe bei dem Kläger gegen seine Abschiebung nach Afghanistan. Aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Einzelfalls kann bei dem Kläger nicht davon ausgegangen werden, dass es ihm gelingen wird, in Afghanistan ein Leben wenigstens am Rande des Existenzminimums zu führen.
Dabei hat das erkennende Gericht seine frühere Rechtsprechung, wonach in Übereinstimmung mit der damals gängigen obergerichtlichen Judikatur davon ausgegangen worden ist, dass jedenfalls junge, erwerbsfähige und alleinstehende Männer es auch in Großstädten, wie insbesondere Kabul, selbst ohne familiäres Netzwerk schaffen, wenigstens durch Gelegenheitsarbeiten für sich zu sorgen, schon in Folge der Covid-19-Pandemie geändert. Bereits früher war die allgemeine humanitäre Lage insbesondere in den Großstädten zwar hochgradig angespannt, aber noch nicht auf einem solchen Niveau, als dass beinahe jeder Rückkehrer ohne familiäres Netzwerk verelenden würde, weil zumindest auf den Tagelöhnermärkten hinreichende Gelegenheit bestand, für das Existenzminimum zu sorgen. […]
Diese Situation hat sich nach Auffassung des Gerichts durch die Covid-19-Pandemie und die dadurch bedingten humanitären Entwicklungen aber derart verändert, dass nunmehr jedenfalls in Großstädten und zumindest in den Fällen, in denen der junge, erwerbsfähige und alleinstehende Betroffene über kein tragfähiges soziales wie familiäres Netzwerk verfügt und insoweit auf den Tagelöhnermarkt angewiesen ist, nicht mehr die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, das Existenzminimum zu garantieren.
Insoweit verweist das Gericht auf die Entscheidungen des VGH Baden-Württemberg sowie des OVG Bremen, in denen die humanitäre Situation in Folge der Pandemie insbesondere in den Großstädten Afghanistans ausführlich und detailliert dargestellt wird. Danach kann nunmehr auch ein junger, erwerbsfähiger und alleinstehender Mann im Falle fehlender Berufserfahrung bzw. eines fehlenden familiären wie sozialen Netzwerks nicht, auch nicht auf dem Tagelöhnermarkt, für sich sorgen. Dem schließt sich das erkennende Gericht – ebenso wie viele andere Verwaltungsgerichte – vollumfänglich an. […]
Seit der Machtübernahme der Taliban steht die durch die Folgen der Covid-19-Pandemie und anhaltenden Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaftslage nunmehr vor dem vollständigen Kollaps. Rückkehrende verfügen nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern. […]
Die allgemeine Schwierigkeit, sich angesichts der derzeitigen wirtschaftlichen Situation auf einem der Tagelöhnermärkte wenigstens ein Existenzminimum zu sichern, ist bei dem Kläger aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung und dem Umstand, dass er bereits seit 2015 nicht mehr in Afghanistan lebt und er dieses Land bereits als Minderjähriger und ohne Berufserfahrung in diesem Land verlassen hat, besonders groß. Unabhängig davon, welches der in den Verwaltungsvorgängen genannten Geburtsjahre man zugrunde legt, war der Kläger bei der Ausreise jedenfalls noch minderjährig. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Kläger in Afghanistan über keinerlei Schulausbildung verfügte.
Es ist daher davon auszugehen, dass bereits durch die erhebliche Zunahme an Binnenflüchtlingen, von denen die meisten auf den ohnehin überlaufenen Tagelöhnermarkt angewiesen sind, die Dürreperiode, die erhebliche Steigerung der Lebenshaltungskosten, die massiv verschlechterte allgemeine wirtschaftliche Situation, durch die auch die Arbeitsaufträge auf dem Tagelöhnermarkt rapide zurückgehen, sowie die dramatische Armutsverschlimmerung es nicht mehr hinreichend wahrscheinlich ist, dass der Kläger sich auf dem Tagelöhnermarkt durchsetzen und dort ein Einkommen erzielen wird, dass ihm ein Leben wenigstens am Rande des Existenzminiums sichern würde.
Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger, dessen Eltern bereits verstorben sind, in Afghanistan mit der dringend notwendigen finanziellen Unterstützung rechnen können wird. Zwar leben wohl noch seine Geschwister in Afghanistan, aber die Familie war schon vor der Pandemie und der Machtübernahme durch die Taliban arm und war schon früher auf die finanzielle Unterstützung durch die in Deutschland lebenden Familienmitglieder angewiesen. Es ist nicht ersichtlich, dass sich ihre wirtschaftliche Situation ausgerechnet jetzt, da die Wirtschaftslage in Afghanistan vor dem vollständigen Kollaps steht (s.o.), verbessert hat und sie nunmehr in der Lage wäre, den Kläger finanziell zu unterstützen.
Besondere begünstigende Umstände, die entgegen obenstehender Ausführungen doch zu der Annahme führen könnten, der Kläger könne seine Existenz in Afghanistan sichern, liegen in diesem speziellen Einzelfall nicht vor. Insbesondere verfügt der Kläger aus den benannten Gründen nicht mit der erforderlichen Sicherheit über nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte oder über ausreichendes Vermögen. Schließlich können auch die finanziellen Hilfen, die ein freiwilliger Rückkehrer erhalten kann, seine Existenz im Falle eines fehlenden Netzwerks nicht nachhaltig sichern, sondern bestenfalls eine anfängliche Unterstützung bzw. eine nur vorübergehende Bedarfsdeckung schaffen.
Das VG Düsseldorf hat mit Urteil vom 01.12.2021, 18 K 1620/21.A einen Bescheid aufgehoben, mit dem das BAMF ein Abschiebungsverbot, welches es einem jungen Mann zuerkannt hatte, als dieser noch minderjährig war, widerrufen wollte, nachdem dieser volljährig wurde. Das Gericht schildert die sich anbahnende humanitäre Katastrophe in drastischen Worten, und gibt zugleich auch einen Überblick über den Stand der obergerichtlichen Rechtsprechung zum Thema:
Ausweislich des aktuellen Lageberichtes des Auswärtigen Amtes war Afghanistan bereits vor der Machtübernahme der Taliban eines der ärmsten Länder der Welt und wurde von den wirtschaftlichen Auswirkungen der COVID-19-Pandemie schwer und nachhaltig getroffen. Die durch die Folgen der COVID-19-Pandemie und anhaltende Dürreperioden bereits angespannte Wirtschaftslage steht in Folge des Zusammenbruchs der afghanischen Republik vor dem vollständigen Kollaps. Rückkehrende verfügen aufgrund des gewaltsamen Konflikts und der damit verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern. […]
Auch das Bundesamt ging im Dezember 2020 bei der Prüfung der Einleitung eines Widerrufsverfahrens bei der Mutter des Klägers, der ebenfalls ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zuerkannt worden war, davon aus, dass unter Berücksichtigung der aktuellen Herkunftsländerinformationen und der dargestellten Lage keine Anhaltspunkte ersichtlich seien, dass eine grundlegende und dauerhafte Sachlagenänderung in Afghanistan eingetreten sei.
Bereits im Hinblick auf die Corona-Pandemie hatten mehrere Obergerichte die bis dahin bestehende obergerichtliche Rechtsprechung, dass für junge, volljährige, gesunde, leistungsfähige, alleinstehende afghanische Staatsangehörige selbst ohne nennenswertes Vermögen und familiäre Rückhalt die Chance bestehe, in Kabul oder einer anderen Großstadt durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erzielen und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, […] in Frage gestellt und relativiert. So hielt der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof (VGH BW) an diesem Grundsatz für alleinstehende gesunde Männer im arbeitsfähigen Alter ohne soziales oder familiäres Netzwerk und ohne Vorliegen sonstiger begünstigender Umstände angesichts der Auswirkungen der CoronaPandemie nicht fest […].
Das Oberverwaltungsgericht Bremen stellte auf eine sorgfältige Prüfung im Einzelfall ab […].
Bereits im Hinblick auf die Corona-Pandemie hatten mehrere Obergerichte die bis dahin bestehende obergerichtliche Rechtsprechung, dass für junge, volljährige, gesunde, leistungsfähige, alleinstehende afghanische Staatsangehörige selbst ohne nennenswertes Vermögen und familiäre Rückhalt die Chance bestehe, in Kabul oder einer anderen Großstadt durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erzielen und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, […] in Frage gestellt und relativiert. So hielt der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof (VGH BW) an diesem Grundsatz für alleinstehende gesunde Männer im arbeitsfähigen Alter ohne soziales oder familiäres Netzwerk und ohne Vorliegen sonstiger begünstigender Umstände angesichts der Auswirkungen der CoronaPandemie nicht fest […].
Das Oberverwaltungsgericht Bremen stellte auf eine sorgfältige Prüfung im Einzelfall ab, […] das rheinland-pfälzische Oberverwaltungsgericht (OVG Rh-Pf.) darauf ab, ob der Rückkehrer ausreichend belastbar und durchsetzungsfähig sei und/oder über familiäre soziale Beziehungen verfüge. […]
Im Gegensatz dazu hielten der bayerische Verwaltungsgerichtshof (Bay VGH) und das Oberverwaltungsgericht Hamburg auch im Hinblick auf die Corona-Pandemie daran fest, das bei Rückkehrern im Allgemeinen nicht die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben seien. […]
Jedenfalls haben sich die bereits durch die Covid-19-Pandemie insbesondere für Rückkehrer ohne realisierbare Anbindung an Familie oder andere Netzwerke erschwerte Situation auf dem Arbeitsmarkt, die Versorgungssituation und die eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems […] und die daraus folgende humanitäre Lage durch die im August 2021 erfolgte Machtübernahme der Taliban in Afghanistan nicht verbessert. […]
Das sächsische Oberverwaltungsgericht geht aufgrund der Feststellungen des aktuellen Lageberichts des Auswärtigen Amtes vom 22. Oktober 2021 sogar von einer dramatischen Verschlechterung der Verhältnisse nach der Machtübernahme durch die Taliban aus […], das VG Cottbus konstatiert zumindest eine nochmalige Verschärfung der humanitären Lage im Land nach der Machtübernahme durch die Taliban […].
Auch nach den Feststellungen des Auswärtigen Amtes in seinem aktuellen Lagebericht hat sich die bereits vor der Machtübernahme der Taliban angespannte wirtschaftliche Lage weiter verschlechtert und stehe vor dem vollständigen Kollaps. Zahlreiche Haushalte, die von Gehältern im öffentlichen Dienst oder im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit oder von Tätigkeiten bei internationalen Akteuren abhängig gewesen seien, hätten ihre Einkommensquellen verloren, […]
Leere öffentliche Kassen und die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland, sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung haben zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung, steigenden Preisen und Verknappung essentieller Güter geführt. Die deutsche bilaterale Entwicklungszusammenarbeit wurde, ebenso wie die Unterstützung anderer internationaler Geber, soweit sie nicht der humanitären Hilfe zuzurechnen ist, bis auf weiteres ausgesetzt. […]
Die Vereinten Nationen warnen nachdrücklich vor einer humanitären Katastrophe und Hungersnot in Afghanistan in diesem Winter. […]
Die Hungerkrise in Afghanistan spitze sich dramatisch zu. Aktuell habe fast die Hälfte der Bevölkerung in Afghanistan, knapp 19 Millionen Menschen, nicht genug zu essen. Im November könnten den Schätzungen zufolge schon fast 23 Millionen Menschen von akutem Hunger betroffen sein. Bereits im September und Oktober hätten viele Menschen in Afghanistan ein hohes Maß an akuter Ernährungsunsicherheit erlebt. Es habe einen Anstieg von fast 30 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gegeben. Gründe für den Anstieg seien eine anhaltende Dürre, Missernten, Schneemangel, der zu Wasserknappheit führe, der Zusammenbruch öffentlicher Dienstleistungen, andauernde Konflikte mit der Zerstörung von Straßen, Brücken und Häusern, eine schwere Wirtschaftskrise und steigende Lebensmittelpreise in dem Land sowie der Vertreibung von rund 665.000 Menschen innerhalb des Landes. […]
Die von Deutschland geförderten humanitären Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen wurden aus Sicherheitsgründen temporär eingestellt. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen, UNAMA sei ebenso wie eine Reihe von VN-Unterorganisationen vor Ort – mit Abstrichen – weiter arbeitsfähig, für Menschenrechtsorganisationen sei die Arbeit faktisch im Moment kaum möglich. […]
Das Auswärtige Amt stellte ferner schon vor der Machtübernahme durch die Taliban fest, dass es wahrscheinlich sei, dass lokale Netzwerke nicht mehr existierten oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt sei und dies die Reintegration stark erschwere, wenn die Rückkehrenden lange Zeit im Ausland gelebt oder Afghanistan mit der ganzen Familie verlassen hätten. Der Mangel an Arbeitsplätzen stelle für den Großteil der Rückkehrenden die größte Schwierigkeit dar, da der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken abhänge. Inwiefern das Familiennetzwerk sozialen Halt biete, hänge stark von deren finanziellen Lage ab.
Warum muss es immer juris sein?
Feneberg und Pettersson fordern im Sinne einer Verbesserung der Begleitung der Rechtsprechung durch die Wissenschaft auch, mehr Entscheidungen zu veröffentlichen. Eine Forderung, der ich mich im Prinzip gerne anschließe. Leider verengen sie den Blick dabei ein wenig, indem sie die Veröffentlichung bei juris fordern. Es spricht freilich nichts gegen eine Veröffentlichung bei juris, aber juris ist aber eine kostenpflichtige Datenbank, und der Zugang zu dieser Datenbank ist praktisch einer Minderheit vorbehalten. Wichtiger aus meiner Sicht wäre es, dass die Entscheidungen (auch) in frei zugänglichen Datenbanken veröffentlicht werden, wie beispielsweise openJur oder auch rewis.io, damit auch kleinere Beratungsstellen oder die zahlreichen, ehrenamtlich in der Arbeit mit Geflüchteten tätigen Personen Zugriff auf diese Entscheidungen bekommen.
Entscheidungen
- VG Gelsenkirchen, Urteil vom 21.12.2021, 5a K 2949/19.A
- VG Düsseldorf, Urteil vom 01.12.2021, 18 K 1620/21.A
- VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 15.10.2021, 21 K 3063/21.A
- VG Gelsenkirchen, Urteil vom 11.10.2021, 5a K 1916/18.A
Hinweis: Die in diesem Artikel wiedergegeben Auszüge aus diesen Entscheidungen habe ich im Sinne einer Lesbarkeit mitunter stark gekürzt und insbesondere diverse Verweise auf die Auskunftslage und andere gerichtliche Entscheidungen gestrichen. Auf der entsprechenden in meinen aufenthaltswiki sind nicht nur die entsprechenden Entscheidungen verlinkt, sondern auch wesentlich umfangreichere und und weniger stark gekürzte Auszüge aus diesen Entscheidungen zu finden, einschließlich zahlreicher Verweise.
Warum muss es immer juris sein? An dieser Stelle möchte ich auf die Datenbank des BAMF hinweisen. Diese kann auch von Externen genutzt werden.
https://milo.bamf.de/
Beste Grüße