VG Düsseldorf: Familienasyl für volljährige Schwester

Ein interessantes Urteil gibt es vom Verwaltungsgericht (VG) Düsseldorf zu berichten: Dort wurde das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) dazu verpflichtet, einer jungen, aber volljährigen Frau aus Somalia den subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) zuzuerkennen. Was die Entscheidung interessant macht, ist die Tatsache, dass das Gericht die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes nicht in der Person der Klägerin selbst erfüllt sah, aber der Auffassung war, dass ihr ein entsprechender Anspruch nach den Bestimmungen über den internationalen Schutz für Familienangehörige (§ 26 AsylG, nachfolgend wie auch in der Überschrift der Einfachheit halber und zugegebenermaßen nicht ganz richtig Famlienasyl genannt) zustehe, da ihrer minderjährigen Schwester durch das BAMF selbst subsidiärer Schutz zuerkannt worden war. Das ist deswegen interessant, weil § 26 AsylG seinem Wortlaut nach auf den ersten Blick kein Familienasyl für volljährige Geschwister vorzusehen scheint.

So heißt es in § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG):

Für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Asylberechtigten gilt Satz 1 Nummer 1 bis 4 (= Anspruch auf Familienasyl, MK) entsprechend.

Diese Voraussetzung indes war hier gerade nicht erfüllt, denn die hieisge Klägerin war bereits volljährig und war dies auch bereits, als sie ihren eigenen Asylantrag gestellt hat. Die Einzelrichterin indes arbeitet gründlich und liest die gesamte Vorschrift sehr genau, in deren Satz 1 es heißt:

Die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten oder ein anderer Erwachsener im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU werden auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn […] sie die Personensorge für den Asylberechtigten innehaben.

Die Richterin kommt mithin zu der Frage, ob die Schwester nicht vielleicht eine „andere Erwachsene“ im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU, besser bekannt als Qualifikationsrichtlinie (QRL) oder auch Anerkennungsrichtlinie. Art. 2 Buchstabe j QRL lautet wiederum, soweit hier von Interesse:

„Familienangehörige“ die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat: […] der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist;

Das Gericht führt aus:

Diese Voraussetzungen liegen vor. Bei der Schwester M der Klägerin handelt es sich um eine minderjährige, ledige international Schutzberechtigte. Die Klägerin ist ein anderer Erwachsener im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j, dritter Spiegelstrich der Richtlinie 2011/95/EU (EU-Anerkennungsrichtlinie). Danach sind „Familienangehörige“ unter anderem die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat: Ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist.

An dem Geschwisterverhältnis und mithin am Bestehen der Familie im Herkunftsland besteht kein Zweifel. Sie haben nach ihren übereinstimmenden Angaben zusammen mit ihrer Mutter und den weiteren Geschwistern in Mogadischu gelebt. Die Klägerin ist gemeinsam mit M zum Zwecke der Asylantragstellung nach Deutschland gereist und hält sich demzufolge im Zusammenhang mit ihrem Asylantrag dort zusammen mit ihrer Schwester aus. Die Klägerin hat schon während der Ausreise die Verantwortung für ihre minderjährige Schwester übernommen und ist nach der maßgeblichen Praxis in Deutschland auch hier für sie verantwortlich. Sie war etwa ein Jahr Vormund ihrer Schwester und hat für M den Asylantrag gestellt. Die Schwestern wohnen zusammen in einer eigenen Wohnung. Das Jugendamt hat zwar die Vormundschaft über M inne, wird aber keine oder nur eine geringe tatsächliche Betreuung in alltäglichen Dingen übernehmen. Dies ist Aufgabe der Klägerin. Ihre Schwester ist auf die Anwesenheit der Klägerin in ihrer unmittelbaren Nähe angewiesen. Aus der Ausländerakte ergibt sich, dass die Klägerin über die gemeinsame Lebensführung hinaus ihrer Schwester auch Beistand in behördlichen Angelegenheiten leistet. So kümmert sich die Klägerin etwa um die Verlängerung der Ausweisdokumente ihrer Schwester und wird von der Ausländerbehörde zu diesen Zwecken auch in Anspruch genommen. Ferner wird ihr Hilfe zur Erziehung (sogenanntes Pflegegeld) für M gewährt.

Nun verlangt § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG allerdings die „Personensorge“. Die Klägerin hat indes nicht (mehr) die Personensorge im Sinne des § 1626 BGB inne; diese liegt vielmehr nach den geradte zitieren Feststellungen des Gerichts beim Jugendamt. Dürfte der Anspruch auf Familienasyl damit nicht ausgeschlossen sein? Das Gericht sieht dies anders:

Schließlich hat die Klägerin, wie von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG gefordert, auch die Personensorge für M inne. Maßgebend ist hierbei nicht der rechtliche, sondern der tatsächliche Begriff der Personensorge. […]

Würde die elterliche Sorge im Sinne des § 1626 Abs. 1 BGB, die die Personensorge und die Vermögenssorge umfasst, zur Voraussetzung des Status gemacht, würden die anderen Erwachsenen, die nach nationalem Recht oder Praxis für das Kind „verantwortlich“ sind, ohne aber sämtliche der in § 1626 Abs. 1 BGB geforderten Verantwortlichkeiten ausüben zu können, nicht begünstigt. Die Erweiterung des Familienasyls auf diese Personen in § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG liefe jedenfalls für diejenigen Bezugspersonen leer, die nicht die Personensorge im rechtlichen Sinne ausüben, wohl aber Verantwortung für das Kind übernommen haben. […]

Aus den Erwägungsgründen 18, 19 und 38 sowie aus Art. 20 Abs. 5 EU-Anerkennungsrichtlinie ergibt sich, dass bei der Umsetzung der Richtlinie durch die Mitgliedstaaten das Wohl des Kindes eine vorrangige, besonders zu berücksichtigende Erwägung darstellen muss, bei deren Beurteilung die Mitgliedstaaten unter anderem dem Grundsatz des Familienverbandes sowie dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen gebührend Rechnung tragen müssen. […]


Bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG entsprechend dem Zweck des Minderjährigenschutzes ist daher der im Unionsrecht maßgebliche tatsächliche Begriff der Personensorge im Sinne der „Verantwortung“ für das Kind zugrunde zu legen. […]

Dies entspricht dem Grundsatz des Familienverbandes sowie dem Wohlergehen des Kindes, wie der vorliegende Fall der beiden auf sich alleine gestellten Schwestern anschaulich zeigt.

Eine Verantwortlichkeit der Klägerin in diesem Sinne für ihre Schwester liegt vor. Sie ist Betreuungs- und Erziehungsperson, wie sich nicht zuletzt aus der Tatsache ergibt, dass der Klägerin für ihre Schwester finanzielle Hilfe zur Erziehung gewährt wird. Zwischen beiden besteht eine gemeinsame Lebensführung in Form einer Beistandsgemeinschaft. M ist gerade auch im Hinblick auf ihre weiterhin bestehenden gesundheitlichen Probleme auf die tatsächliche Hilfe der Klägerin angewiesen.

Damit kommt das Gericht im Ergebnis für das Asylrecht zu einem eigenen Begriff der Personensorge, vom bürgerlich-rechtlichen Begriff der Personensorge abweicht und weiter gefasst ist, als dieser, und damit auch zu einem Anspruch der Klägerin auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus.

Das Urteil ist rechtskräftig.

VG Düsseldorf, Urteil vom 22.11.2021, 29 K 9053/19.A

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