An dieser Stelle gebe ich meine erste persönliche Einschätzung des Koalitionsvertrages zwischen CDU und Grünen in NRW ab. Dabei ist wichtig, dass ich mich nur mit den Dingen befasse, die meine Arbeit betreffen. Es geht mir hier also insbesondere nicht um die Ausführungen zur Klimaneutralität. Nicht, weil das Thema nicht wichtig wäre, sondern weil ich mich nicht genug damit auskenne, um dir da ein Urteil anmaßen zu wollen.
Gewalt gegen Frauen (ab Zeile 2562)
Die Koalition betont das Recht aller Frauen auf sexuelle Selbstbestimmung. Man bekennt sich zum Kampf gegen sexuelle Belästigung, physische Gewalt, Menschenhandel, Zwangsprostitution und Genitalverstümmelung. Betont werden die Bedeutung von Istanbul-Konvention, Frauenberatungsstellen und Frauenhäusern, deren Kapazitäten man „bedarfsgerecht“ erhöhen möchte.
Man möchte „Schutzlücken identifizieren und schließen“. Einschlägigen Beratungsstellen wird auch mehr Geld in Aussicht gestellt. Außerdem beabsichtige man Dunkelfeldstudien, möchte Präventionsarbeit stärken und ein „Fachforum zu Menschenhandel, Zwangsprostitution und Prostitution“ einrichten.
Als Praktiker*in hätte man sich vielleicht gewünscht, dass das alles noch etwas konkreter ausfällt, aber vielleicht darf man da auch von einem Koalitionsvertrag nicht zu viel erwarten. Es bleibt zuzugestehen, dass das im Prinzip in die richtige Richtung geht. Insbesondere wäre die angekündigte Erhöhung der Kapazitäten von Frauenhäusern zu begrüßen. Hier darf man wohl gespannt sein, wie die künftige Regierung den Bedarf definiert.
Bedauerlich ist, dass Regelungen wie § 25 Abs. 4a AufenthG, die Opfer von Menschenhandel eine Art vorläufiges Bleiberecht einräumen, und von denen nach meiner Erfahrung nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht wird, gar nicht erwähnt werden. Ich hätte mir an dieser Stelle gewünscht, dass man Strafverfolgungs- und Ausländerbehörden fürderhin zu einer großzügigeren Anwendung dieser Regelungen anzuhalten gedenkt.
Von Integration und Partizipation (2786)
Nordrhein-Westfalen ist geprägt von Menschen unterschiedlicher Herkunft. Unser Ziel ist, dass unsere Bildungseinrichtungen zu Begegnungs- und Lernorten werden, in denen Diskriminierung erkannt und entschieden entgegengetreten wird. Wer in Schule lernt und arbeitet, soll Zugehörigkeit, Teilhabe, Anerkennung und Selbstwirksamkeit im Alltag tatsächlich erfahren. […]
Wir verstehen Vielfalt und Mehrsprachigkeit als Chance und Potenzial, die wir ausschöpfen und fördern wollen. […] Wir werden die Förderung der Mehrsprachigkeit in der Fortbildungsplanung weiter fortsetzen und entwickeln. Den Herkunftssprachlichen Unterricht wollen wir stärken und prüfen, wie wir ihn auch in der Kernlernzeit implementieren können.
Das bleibt vielleicht wieder ein bisschen vage und unverbindlich; ich jedenfalls kann mir noch nicht konkret vorstellen, was daraus jetzt folgt. Aber es geht wiederum jedenfalls im Prinzip in eine richtige Richtung.
Bekämpfung von Organisierter Kriminalität (3889)
Wir legen bei der Kriminalitätsbekämpfung einen Schwerpunkt auf die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, insbesondere der Clan-Kriminalität sowie der Rocker- und Mafia-Kriminalität. Wir schaffen eine für die Erfassung der Straftaten maßgebliche, einheitliche polizeiliche und justizielle Definition zur Clan-Kriminalität, ohne Personen unter Generalverdacht zu stellen. Jungen Menschen aus prekären Verhältnissen wollen wir verstärkt Perspektiven aufzeigen, um ein mögliches Abrutschen in Kriminalität zu verhindern.
Es ist bedauerlich, wenngleich nicht überraschend, dass die Union den problematischen Begriff der „Clan-Kriminalität“, der sich hervorragend zur rassistischen Instrumentalisierung eignet, und offenbar auch in dem Vertrag durchgesetzt hat. Die Behauptung, man könne diesen Begriff durch eine neue Definition sozusagen reparieren, ist offensichtlich Unfug. Vermutlich wissen die Grünen das auch selbst. Man kann förmlich fühlen, wie man hier eine Formulierung ausgehandelt hat, die man der Basis noch so gerade eben verkaufen kann.
Dass man jungen Menschen Perspektiven jenseits der Kriminalität aufzeigen möchte, ist wiederum zu begrüßen; da ist allerdings vorrangig der Bundesgesetzgeber gefordert, etwa durch die (von der Bundesampel angekündigte, aber bislang nicht umgesetzte) Abschaffung von Arbeitsverboten, etwa in § 60a Abs. 6 AufenthG.
Rechtsstaat vermitteln (4318)
Wir werden ein landesweites Projekt umsetzen, mit dem Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die mit unserem Rechtsstaat, seinen Grundsätzen und Werten noch nicht umfassend vertraut sind, unsere Rechtsordnung zugänglicher und verständlicher gemacht wird.
Mich interessiert ernsthaft, was man sich darunter vorstellt? Und: Wird die Rechtsanwaltschaft in dieses Projekt einbezogen werden? Oder wird man jenen Mitbürger*innen nur die Perspektiven von Richter*innen und Staatsanwält*innen auf „unseren Rechtsstaat“ vermitteln?
Politische Bildung (4997)
Rassismus, Antisemitismus, Homo- und Transfeindlichkeit und andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sind eine Realität im Alltag vieler Menschen, auf der Straße, im Netz und in Institutionen. […]
Außerdem werden wir die unerlässliche Perspektive von Rassismus betroffener Communities in die Entwicklung von Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und
Rassismus einbinden. […]Die Beratungsstruktur gegen Rechtsextremismus, von Opferberatung, mobiler Beratung gegen Rechtextremismus und zivilgesellschaftlicher Aussteigerberatung leistet unverzichtbare Arbeit bei der Bekämpfung von Rechtsextremismus und jeder Form von Rassismus, Antisemitismus und anderer menschenverachtender Einstellungen. Wir werden sie finanziell deutlich stärken und dauerhaft absichern auch um Phänomene wie Hate Speech und Verschwörungsmythen bearbeiten zu
können.
Das ist alles schön und zu begrüßen, wenngleich man insbesondere den Opferberatungsstellen Unrecht tut, wenn man sie lediglich als Einrichtungen der politischen Bildung ansieht, denn dort wird wesentlich mehr geleistet (u.a. Begleitung von Opfern in Strafprozessen). Es bleibt daher zu hoffen, dass man den Abschnitt so verstehen muss, dass ihnen nicht ausschließlich (schlimmstenfalls mit entsprechender Zweckbindung) für ihre politische Bildungsarbeit mehr Geld zur Verfügung gestellt wird, sondern auch für ihre anderen Aufgaben.
Ganzheitliche medizinische Versorgung (4618)
Einen der schönsten Abschnitte haben sie gut versteckt:
Wir wollen bestehende Beratungsangebote der Clearingstellen zur gesundheitlichen Versorgung von Menschen aus Nicht-EU-Ländern ohne Papiere oder Versicherungsschutz verstetigen und unter Einbeziehung virtueller Instrumente das Know-how in die Fläche bringen. Aus humanitären Gründen schaffen wir zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung für Menschen ohne definierten Aufenthaltsstatus einen anonymen Krankenschein und werden diesen mit einem Fonds finanziell absichern. Wir entwickeln auf der Grundlage der im Bund geplanten Verankerung des Anspruchs auf angemessene Sprachmittlung in der medizinischen Versorgung entsprechende Strategien – auch digital.
Ein landesweiter anonymer Krankenschein? Das wäre wirklich toll! Ich bin gespannt.
Arbeitsmarkt (4954)
Damit Betriebe darin unterstützt werden, Geflüchteten und Geduldeten einen Ausbildungsplatz anzubieten, wollen wir einen konsequenten Abschiebungsschutz für geduldete Auszubildende schaffen. Den dauerhaften Aufenthalt und Arbeitsmarktzugang wollen wir ermöglichen.
Das ist schön, aber tatsächlich muss man ja auch schwarz-gelben Ladensregierung zugute halten, dass sie sich diesbezüglich um eine möglichst liberale Linie bemüht. Letztlich sind die Gestaltungsmöglichkeiten des Landes hier begrenzt; gefordert ist hier wiederum die Bundesampel: Wer eine Ausbildung machen möchte, muss es auch dürfen. Ohne wenn und aber.
Denn, wer, wie ich, schon mal das Vergnügen hatte, einem Inhaber eines Handwerksbetriebes erklären zu müssen, dass es tatsächlich dem gesetzgeberischen Willen entspricht, dass er besser keine*n Nachfolger*in für seinen Betrieb findet und ihn dann früher oder später schließen muss, statt eine Person ohne anerkannten Identitätsnachweis auszubilden, die seinen Betrieb übernehmen wollte und könnte, weiß, dass das Problem nicht bei der mangelnden Bereitschaft der Betriebe, Geflüchtete auszubilden, liegt, sondern bei der damit verbundenen Bürokratie.
Migration, Integration und Flucht (5813)
Für mich freilich das interessanteste Kapitel. Es fällt auf, dass es erst ziemlich weit hingegen Koaltionsvertrag kommt (Seite 118 avon 146). Das hat man hoffentlich nicht aus Prioritätensetzung zu verstehen.
Bleiberecht (5897)
Für gut integrierte Geflüchtete wollen wir einen dauerhaften Aufenthalt und Arbeitsmarktzugang ermöglichen. Den Kreis der Teilnahmeberechtigten von Integrations- und Sprachkursen wollen wir erweitern und flächendeckende berufsspezifische Sprachkurse entwickeln.
Für zugewanderte Menschen, die schon lange ein Teil unserer Gesellschaft sind, wollen wir Einbürgerungsverfahren beschleunigen und erleichtern. Unser Ziel ist es, in Nordrhein-Westfalen alle humanitären und aufenthaltssichernden Bleiberechtsregelungen so auszuschöpfen, dass gut integrierte geduldete Geflüchtete eine Bleibeperspektive erhalten.
Wir erwarten, dass der Bund zu den Bleiberechtsperspektiven zügig entsprechende gesetzliche Regelungen verabschiedet. Wir werden den Gesetzgebungsprozess aufmerksam begleiten und entsprechend laufend mögliche Anpassungsbedarfe bei Erlassregelungen des Landes prüfen.
Das ist alles ganz hübsch, aber wirkt eben auch ein wenig hilflos, denn Bleiberechtsregelungen sind zuvörderst Sache des Bundesgesetzgebers. Die Bundesampel hat zwar einiges in diese Richtung angekündigt, aber bis jetzt noch nicht umgesetzt. Es gibt lediglich einen ersten Referentenentwurf für das sog. „Chancen-Aufenthaltsrecht“. Auch insoweit ist aber bislang völlig unklar, wann dieses Chancen-Aufenthaltsrecht kommen wird, und wie genau es dann aussehen wird.
Was mich an diesem Abschitt ärgert, ist der letzte Satz, und da bin ich anscheinened auch anderer Auffassung als der Flüchtlingsrat NRW, der es in seiner Pressemitteilung zum Koalitionsvertrag als positiv verbucht, dass notwendige Erlasse gestaltet werden sollen. Tatsächlich kann ich das da so nicht erkennen. Ich sehe lediglich, dass Erlasse „geprüft“ werden sollen – was für mein Dafürhalten eine sehr unverbindliche Formulierung ist. Es kann ja eben auch sein, dass ein Erlass geprüft, und dann aber eben doch nicht erlassen wird. Mich ärgert das insbesondere deswegen, weil die gründe Landtagsfraktion im letzten Landtag, in der Opposition, noch selbst eine Initiative für einen sogenannten Vorgriffserlass für das sog. „Chancen-Aufenthaltsrecht“ eingebracht hat. Es hätte ihr daher m.E. gut zu Gesicht gestanden, einen solchen Erlass jetzt klar und verbindlich in den Koalitionsvertrag hineinzuschreiben.
Rückführungen (5916)
Da, wo ein Asylantrag abgelehnt wurde und es keine weiteren aufenthaltsrechtlichen oder humanitären Bleibegründe gibt, muss die Ausreise durch eine freiwillige Rückkehr oder eine Rückführung erfolgen. Priorität hat für uns die konsequente und rechtmäßige
Abschiebung von Straftätern und Gefährdern.
Das fasst im Wesentlichen den Status Quo zusammen, wie wir ihn auch bisher schon in NRW gewohnt waren.
Wir wollen eine rechtsstaatliche, faire und humanitär verantwortliche Rückkehr- und Abschiebepraxis gewährleisten. Wir werden alles unternehmen, um Abschiebungen aus Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sowie Krankenhäusern und psychiatrischen Einrichtungen heraus zu vermeiden. Die Wahrung des Kindeswohls hat für uns Priorität. Wir wollen die unabhängige Abschiebungsbeobachtung personell stärken.
Diesen Absatz wiederum finde ich besonders schlimm. „fair“ und „humanitär verantwortlich“ sind für mein Empfinden halt Ausdrücke, mit dem Wort „Abschiebepraxis“ nichts in einem Satz verloren haben. Alles andere endet fast zwangsläufig in einer zynischen hohlen Phrase, wenn man mal die wenigen Sonderfälle ausnimmt, in denen Menschen tatsächlich abgeschoben werden wollen. Es ist auch eher abstoßend, zu sagen, dass man Abschiebungen aus Krankenhäusern, Schulen etc. zwar „vermeiden“ möchte, sie dabei dann aber eben doch nicht ausschließt. Der Satz ist letztlich eine Nichtaussage. Selbstverständlich möchte man das vermeiden. Wann immer Kinder zur Abschiebung aus Schulen geholt werden, werden die beteiligten Beamt*innen hinterher sagen, dass es halt nicht anders, dass es notwendig gewesen sei, dass das Gesetz ihnen keine andere Wahl gelassen habe. Der Satz gibt daher keinerlei Grund zur Annahme, dass sich irgendetwas an der bisherigen Verwaltungspraxis ändern wird.
Der Abschnitt schließt mit einigen, kurzen Ausführungen zur Abschiebungshaft. Auch hier steht im Grunde nichts Neues drin, vergleichen mit der bisherigen Praxis der Abschiebungshaft in NRW. Bemerkenswert ist allenfalls, was dort nicht steht: Es steht dort nämlich nichts zum geplanten Abschiebeknast in Düsseldorf, insbesondere also auch nicht, dass man diese Planungen nunmehr begraben wird, obwohl sich die Grünen im Wahlkampf noch klar gegen diesen Knast positioniert haben.
Landesaufnahmeprogramm (5940)
Ein Landesaufnahmeprogramm wird angekündigt. Das wäre an sich freilich zu begrüßen: Was konkret dabei herauskommt, bleibt abzuwarten.
Unterbringung und Beratung von Geflüchteten (5949)
Man möchte eine schnelle dezentrale Unterbringung von Geflüchteten in den Kommunen erreichen. Dabei will man besondere Schutzbedarfe identifizieren und Leistungen und Maßnahmen anbieten, „die die Menschen auf ein selbstbestimmtes Leben auch nach der Zuweisung in die Kommune vorbereiten.“ Das Landesgewaltschutzkonzept soll fortentwickelt, umgesetzt und ausgebaut, unabhängige Verfahrensberatung und soziale Beratung insgesamt gestärkt und ausgebaut werden.
Das alles geht wiederum freilich zumindest in die richtige Richtung. Wünschenswert wäre freilich eine vollständige Abschaffung des integrationsfeindlichen Lagerunwesens. Dafür jedoch bedürfte es wohl des Bundesgesetzgebers, insoweit stimmte ich auch der Stellungnahme des Flüchtlingsrats NRW zu. Im Übrigen irritiert sie mich ein wenig, weil es dort ein wenig so klingt, als hätte das Land hier ohne entsprechende Gesetzesänderungen kaum eigene Handlungsmöglichkeiten. Tatsächlich aber sieht § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylG ja hauptsächlich eine Art Höchstdauer der Unterbringung in den Aufnahmeeinrichtungen vor („längstens“). Den Ländern bleibt es mithin unbenommen, die Menschen ggf. auch schon früher aus diesen Einrichtungen zu entlassen. Sofern das Land von dieser Möglichkeit großzügiger als bisher Gebrauch macht, wäre auch das durchaus zu begrüßen. Im Übrigen war es auch bisher schon keineswegs ungewöhnlich, dass Menschen vor Ablauf der nach § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylG vorgegebenen Zeiträume aus den Einrichtungen entlassen und Kommunen zugewiesen worden sind.
Gesundheitsversorgung (5974)
Es sollen Anreize geschaffen werden, damit mehr Kommunen die elektronische Gesundheitskarte einsetzen. Es soll untersucht werden, ob der Rahmenvertrag mit den Krankenkassen neu verhalten werden kann. Psychosoziale Zentren und psychosoziale Beratung sollen gestärkt und der Zugang zu psychotherapeutigen Leistungen verbessert werden.
Das ist alles richtig und wichtig, aber es bleibt eben auch recht unverbindlich. Auch insoweit bleibt halt abzuwarten, was dabei herauskommen wird.
Ein Gedanke zu „Koalitionsvertrag: Schwarz-grün in NRW“